"Ohne Zugang zur Gebärdensprache in den ersten Lebensjahren können taube Kinder Störungen auf vielen kognitiven Ebenen entwickeln, die sie daran hindern, gleiche Bildungschancen zu erhalten und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie werden nicht in der Lage sein, ihr volles Potenzial zu entwickeln und auszuschöpfen. Kinder brauchen Sprache und Kommunikation von Anfang an, um ihre Interessen zu entdecken, ihre Talente zu entwickeln und ihre Persönlichkeit zu entfalten. Gebärdensprache fördert die ganzheitliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in kognitiver, emotionaler, sozialer und körperlicher Hinsicht und ist für viele taube Menschen die wichtigste Form der Kommunikation und der sozialen Integration.
Angesichts der verheerenden Folgen einer Epidemie von Sprachdeprivation ist die Einführung einer Gebärdensprachpflicht für taub geborene Kinder zu erwägen. Dies würde den Kindern einen natürlichen Spracherwerbsprozess, eine adäquate kognitive und emotionale Entwicklung ermöglichen und präventiv gegen eine Sprachdeprivation, die sozial induziert ist, wirken. Durch die Stimulation von neuronalen Verknüpfungen im Gehirn durch die Gebärdensprache können taub geborene Kinder semantische Konzepte ausbilden, die Voraussetzung dafür sind, mit gebärdensprachlichen Peers, Familienmitgliedern und der Gesellschaft im Allgemeinen zu kommunizieren und die Welt zu verstehen. Dies fördert ihre soziale Kompetenz sowie ihre Identitätsentwicklung und ermöglicht ihnen, ein aktives Mitglied der Gesellschaft zu werden.
Der Zugang zur Gebärdensprache ist entscheidend dafür, genug Wissen über die Welt zu erwerben, das eigene Handeln und Tun zu planen und zu bewerten, die eigenen beruflichen Möglichkeiten zu verbessern und vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen. Vielerorts ist es bereits Praxis, dass gehörlose Kinder über die Eingliederungshilfe einen Zugang zur Gebärdensprache im Sinne der Teilhabe an Bildung erhalten. Auch ihre Eltern und Geschwister können in Gebärdensprachkursen, die von der Jugendhilfe finanziert werden, die Deutsche Gebärdensprache erlernen.
Die bisherige Praxis zeigt jedoch, dass ein Antrag auf Hausgebärdenkurse oft mit monate- oder jahrelangen Antrags- und Klageverfahren seitens der Eltern verbunden ist. Obwohl die Rechtslage eindeutig ist, werden aufgrund von Einzelfallentscheidungen ungenügend geschulter Sachbearbeiter negative Bescheide verschickt. Letztlich hängt der Erfolg dann vom Engagement der Eltern und den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen ab. Dadurch kann es vorkommen, dass nicht nur wertvolle Zeit vergeht, in der taube Kinder in einer sprachdeprivierten Situation verharren müssen und dadurch Verhaltens- und Denkstörungen entwickeln, sondern den Eltern werden zudem Ressourcen entzogen, die sie eigentlich dringend für ihr Kind bräuchten.
Zu bedenken ist auch, was mit den Kindern geschieht, deren Eltern über wenig Ressourcen verfügen, die sich in einem extrem bürokratisierten System kaum zurechtfinden und die selbst sehr viel leisten müssen, um den gesellschaftlichen Anforderungen gewachsen zu sein. Diese Kinder sind aufgrund der schlechten Umweltfaktoren und schwachen elterlichen Ressourcen stark gefährdet, eine schwere Sprachdeprivation zu entwickeln. Das Erlernen einer Gebärdensprache sollte für taub geborene Kinder gesetzlich verpflichtend sein, da nur so sichergestellt werden kann, dass alle tauben Kinder ab ihrer Geburt eine angemessene sprachliche Stimulation für eine normale Gehirnentwicklung erhalten.
Durch eine gesetzliche Verankerung einer Gebärdensprachlernpflicht wird sichergestellt, dass das Schicksal gehörloser Kinder nicht mehr dem Zufall überlassen bleibt und in den Händen von hörendem Personal liegt, sondern dass die Gesellschaft dafür Sorge trägt und Verantwortung übernimmt, dass taube Kinder vor sprachlicher Deprivation und einer neuronal sozial-induzierten Körperverletzung geschützt werden. Dies trägt zum Schutz ihrer grundlegenden Menschenrechte bei und stellt sicher, dass sie keine kognitive Beeinträchtigung aufgrund sozialer Einflussgrößen erfahren. Darüber hinaus schafft das Gesetz klare und einheitliche Standards für Bildungseinrichtungen, Gesundheitsdienstleister und andere relevante Institutionen. Dies erleichtert die Umsetzung von Maßnahmen zur Verhinderung von Sprachdeprivation und gewährleistet eine konsistente Unterstützung tauber Kinder in verschiedenen Lebensbereichen.
Ein weiterer Vorteil einer gesetzlichen Verpflichtung wäre, dass sie einen Paradigmenwechsel zu einer Wertschätzung einleitet, die den Abbau von Diskriminierung und Vorurteilen gegenüber der Gebärdensprache unterstützt. Damit kann das Erlernen der Gebärdensprache zur Selbstverständlichkeit werden und indirekt eine inklusive Gesellschaft befördern und ein Umfeld schaffen, in dem taube Menschen vor Sprachdeprivation und sozial induzierter kognitiver Behinderung geschützt werden. Weitere langfristige positive Auswirkungen einer gesetzlich verankerten Gebärdensprachlernpflicht sind die Stärkung der Gehörlosenkultur, die Anerkennung einer Sprache in einer anderen Modalität und die Schaffung einer Grundlage für den Schutz der Rechte und Bedürfnisse tauber Kinder.
Die rechtliche Verpflichtung sollte aufgrund der Dringlichkeit, epidemische sozial-induzierte geistige Behinderungen aufgrund von Sprachdeprivation in der Kindheit zu verhindern, zeitnah eingeklagt oder bestehende Gesetze sollten entsprechend verändert werden, um die Aufmerksamkeit des Gesetzgebers auf das Thema zu lenken und politischen Druck für Veränderungen zu erzeugen.
Eine Klage zur Durchsetzung der Gebärdensprachlernpflicht erfordert in der Regel die Unterstützung erfahrener Anwälte oder Anwaltsorganisationen, die mit den spezifischen rechtlichen und sprachkulturellen Aspekten vertraut sind und die Interessen der Gehörlosengemeinschaft angemessen vertreten können. Ein Rechtsstreit ist zeitaufwendig und langwierig, aber er wäre Teil einer umfassenderen Prävention und Strategie zur Eindämmung der aktuellen Sprachdeprivationsepidemie unter tauben Kindern.
Öffentlichkeitsarbeit, Lobbying und politische Mobilisierung sollten einen Rechtsstreit begleiten, um auch kurzfristig eine Veränderung der gegenwärtigen ethisch- moralisch nicht vertretbaren Situation für gehörlose Kinder zu erreichen."
Zitiert aus Artikel: Grote, K., Stenzel, M., Wegner, S. & Karar, E. (2024). Die verheerenden Auswirkungen von Sprachdeprivation und fehlgeleiteter Diagnostik bei tauben Kindern mit kognitiven und sprachlichen Störungen in medizinischen Zentren, Förder- und Bildungseinrichtungen. Journal of DeafMind & DeafDidactics, 1 (1), Seite 18-21.